Der Angolanische Verein für Sozialaktivitäten war die erste Flüchtlings initiative in Essen, die ein Sozialbüro nur für Flüchtlinge und Migrant* innen in Essen einrichtete,um allein deren Interessen gegenüber den Behörden und der Mehrheitsgesellschaft zu vertreten und gesetzliche Ansprüche durchzusetzen.
Als Ende der 90iger Jahre immer mehr Flüchtlinge aus der Türkei, zahlreichen afrikanischen Ländern und dem ehemaligen Jugoslawien nach Essen kamen, wurde im alten Küsterhaus im Leimgardtsfeld ein Büro eingerichtet,um die vielen Fragen der großen Anzahl von Hilfe- suchenden zu beantworten und deren behördlichen Schriftverkehr pflichtgemäß, auch zur Entlastung der Behörden, zu beantworten. Ganz pragmatisch arbeiteten sich die ehrenamtlichen Berater in die geltenden Vorschriften des Asylgesetzes und später auch in das Aus länderrecht ein.Hinzu kamen die Sozialgesetze mit Schwerpunkt SGB II,wodurch sich das Sozialbüro in die Lage versetzte, Hilfen und Fachberatungen zu relevanten Themen aus aus einer Hand anzubieten.
Viele Menschen hatten sich gefragt, warum es neben den zahlreichen anderen Beratungsstellen für Flüchtlinge in Essen noch ein
weiteres „Sozialbüro“ für Flüchtlinge gab? Die Praxis hatte aufgrund der ständig steigenden Anfragen gezeigt,dass die Beratungsversorgung in Essen
sich allein auf juristische Fragen bezog und nicht auf die Bewältigung des Alltages, wozu die Beantwortung von behördlichen Schreiben gehörte, die oftmals nicht verstanden
wurden, weil nicht in einfacher Sprache verfasst und eine Übersetzung eins zu eins nicht möglich war.Das gilt auch heute noch und es kommt hinzu, dass viele Migrant*Innen kaum über
eine ausreichende Medienkompetenz verfügen, um die Informationen mittels Internet zu nutzen. Dieser Zustand fördert die Ausgrenzung und verhindert den Zugang zu wichtigen
gesetzlichen Leistungen.
Das „Sozialbüro“ arbeitete effektiv, klärte auf und schrieb übers Jahr verteilt hunderte von Briefen und konnte somit viel im sozialen Sektor bewirken. Die breiten Kenntnisse der Ehrenamtler in den Bereichen Asyl, Soziales, Verwaltung und Wirtschaft aus einer Hand hatten eine große Wirkung. Beim Erstgespräch wurden die Probleme identifiziert, der Bedarf an Unterstützung festgestellt, die Ansprechpartner in den Ämtern ausfindig gemacht und es wurden Anträge gestellt,Schreiben formuliert und das Sozialbüro als Gesprächspartner für offene Fragen den Behörden angeboten. Es war eine Unterstützung und Arbeitsentlastung für alle Beteiligten.
Die Menschen kamen ins Sozialbüro,weil sie nicht mehr weiter wussten.
Der Angolanische Verein hat sich als Teil der Zivilgesellschaft in Essen in gesellschaftliche Diskussionen und Entwicklungen eingemischt, um Miß- stände zu vermeiden, Teihabe und soziale Gerechtigkeit auch für Minderheiten und benachteiligte Familien zu ermöglichen- niemand sollte durch das Raster unseres Sozialsystems fallen. Im weitesten Sinne setzte sich der Verein für die Menschen ein, die von Armut betroffen oder bedroht waren und nur eine schwache Lobby in der Mehrheitsgesellschaft hatten. Hier arbeitete der Verein als verlängerter Arm der Kirchengemeinde und hatte eine wichtige Funktion zu erfüllen.
Das war auch ein Grund dafür, warum im Jahr 2014 unter dem Dach des Vereins zur Förderung der Bildungs- und Kulturarbeit in Essen e.V. eine migrantische SelbsthilfeOrganisation entstand, die heute auch gerne Kreuzer- Verein genannt wird. Der Angolanische Verein hatte mittlerweile das Sozialbüro in die Räumlichkeiten des Kreuzers verlegt und elf weitere Migranten- initiativen waren dort sozial, gemeinnützig und kulturell für ihre Communitys tätig. Eine russische Künstlerinitiative veranstaltete Lesungen, ein iranischer Verein beriet Flüchtlinge, ein kurdisches Musik-Ensemble probte im Kreuzer ebenso wie ein russischer Chor und eine Tamilische Tanz- und Musikgruppe. Livekonzerte, internationale Feste (Weltfrauentag, Newroz-Fest) und die Interkulturelle Woche waren ständige Gäste im Kreuzer. Eine effektive Vernetzung mit den Sprach- und Integrationskursen sowie dem Jugendmigrationsdienst und anderen Integrationsprojekten vor Ort war das Ziel.
Der Kreuzer-Verein betreibt mittlerweile ein eigenes Büro in der Schloßstr. 5 und hat seine Beratungsangebote im Laufe der Zeit aus- geweitet.Das Büro wurde in 2021 umbenannt in Beratungsstelle für soziale und wirtschaftliche Integration mit den Schwerpunkten SGB II und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz /FEG. Die Servicestelle MSO/PMO bietet fachliche Begleitung bei der Gründungs- und Organisationsberatung für gemeinnützige Migrantenorganisationen, Projektmangement, Fundraising und der Qualifizierung von Funktionsträgern an. Die Unternehmens- und Organisationsberatung YouConsulting, gegründet in 2009 im Altkleider- container der Kirchengemeinde an der Bocholderstrasse 30, unterstützte auch heute noch ehemalige Flüchtlinge,die auf dem ersten Arbeitsmarkt in Deutschland wegen fehlender Qualifikationspapiere nicht unterkamen und daher in prekären Arbeitsverhältnissen landeten. Es wurden mittlerweile weit über hundert erfolgreiche Geschäfte aus der Arbeitslosigkeit heraus von Flüchtlingen in der Ruhrmetropole mit Unterstützung von YouConsulting gegründet. Diese drei Arbeitsbereiche sind seit Anfang 2020 untergebracht in der Schloßstr.5 am Fliegenbusch und sind Teil der Integrationsprojekte in der Kirchengemeinde – allerdings alleinverantwortlich.Darüberhinaus gibt es eine Anlaufstelle für Flüchtlinge, die von Herrn Khorrami geleitet wird und eine evangelische-ghanaische Gemeinde, die der Presbyter Samuel Arthur leitet.Für die Beratungsstelle in der Schloßstrasse sind das Ehepaar Pabst, Sohn Andre und Felix Haase verantwortlich.
Zahlreiche Projektideen des Vereins wurden in der Vergangenheit von den Medien aufgegriffen und der Öffentlichkeit vorgestellt. So gab es in der deutschen Ausgabe der FINANCIAL-TIMES eine ganze Seite,die der Gründungsberatung für Migrant*innen gewidmet wurde und der SWR drehte gar eine 35-minütige Dokumentation und strahlte diese auf allen Regionalsendern aus (Herr P. und seine Kunden). Einzelne Projekte wurden ausgezeichnet (Karl-Kübel-Stiftung in der Paulskirche in Frankfurt/Land NRW durch die damalige Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien Frau Dr. Schwall-Düren) und sogar eine Einladung ins Schloß Bellevue zum Bundespräsidenten kann die Projektarbeit des Vereins als Referenz vorweisen.
Unter dem Dach der Kirchengemeinde Essen-Borbeck-Vogelheim wird der Kreuzer-Verein auch in Zukunft mit seinem Engagement am Zusammenhalt der Gesellschaft mitwirken und deren Herausforderungen mit neuen Ideen und Projekten begleiten. Die Wirkung von kirchlichem Engagement in die Gesellschaft hinein ist auf den ersten Blick nicht immer erkennbar, aber in Zeiten der Globalisierung und Klimawandel unverzichtbar.
Horst Pabst
Im weiten Feld der Diakonischen Arbeit ist auch unsere Kirchengemeinde intenisv und seit vielen langen Jahren tätig. Welche Arbeit wir da tun und welche Mitarbeitenden darin involviert sind, zeigt die Powerpoint-Präsentation, welche über den nachstehenden Link als Videodatei für alle kostenlos herunterladbar ist. Wenn Sie sich mal ein Bild länger anschauen möchten, drücken Sie in Ihrem Videoplayer einfach die Pausen-Taste.
Über Rückmeldungen oder Fragen rund um diese wichtige und umfangreiche Arbeit freuen wir uns sehr: info@borbeck-vogelheim.de.
Warum Diakonie und Verkündigung nicht zu trennen sind.
Thomas Hartung über die Projektarbeit in der Evangelischen Kirchengemeinde Essen Borbeck-Vogelheim.
Das Gespräch führte Claudia Eliass
horizonte: Was heißt für Sie lebendige Gemeindearbeit?
Thomas Hartung: Dass Gemeinde sich einmischt und damit das Evangelium konkret wird. Jesus ermutigte die Menschen in Wort und Tat, die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen in die jeweiligen sozialen Zusammenhänge hineinzutragen und geschwisterlich zu leben. Diakonie und Verkündigung sind nicht zu trennen. Wir arbeiten einer Tendenz entgegen, die Religion in die private Innerlichkeit des Individuums verbannt ohne große Relevanz für die öffentlichen Belange. Glaube wird „geerdet“, weil er sich immer wieder mit sozialen und kommunikativen Prozessen rückkoppeln muss.
horizonte: Die Evangelische Kirchengemeinde Borbeck-Vogelheim ist Träger des interkulturellen Zentrums kreuzer, engagiert sich bei der Sprachförderung und der Job-Orientierung für Migrantinnen und Migranten. Warum?
Thomas Hartung: Bei der Diskussion um die ersten Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in unserer Gemeinde vor rund 30 Jahren gab der damalige Finanzkirchmeister die Richtung vor: Sie dürfen alles machen, – nur kosten darf es nichts! Also ein ungeheurer Gestaltungsspielraum, den wir in der Folgezeit genutzt haben: Für Projekte mit Jugendlichen, in denen wir die Möglichkeit des internen Schulabschlusses in Trägerschaft des Evangelischen Erwachsenenbildungswerkes wiederbelebt und die Idee der heutigen Produktionsschule antizipiert haben. Für Qualifizierungsprojekte im Garten- und Landschaftsbau und im sozialen Wohnungsbau bis hin zur heutigen Ausrichtung auf die Themen Integration, interkulturelle Kompetenz, interreligiöser Dialog. Wir treten für alle ein, deren Würde heute missachtet wird. Das ist der Ausgangspunkt unserer Projekte. Das Thema Integration von Spätaussiedlern haben wir aufgegriffen, als in Essen keiner sich der Probleme dieser Menschen bewusst war. Sie hatten deutsche Namen, konnten aber kaum Deutsch. Das wurde bei der Arbeitssuche zum Problem. Sie wurden nicht verstanden oder von den Institutionen als nicht kooperativ eingestuft. Wir haben daran gearbeitet.
horizonte: Wäre das nicht eher Sache der diakonischen Werke?
Thomas Hartung: Unsere Gemeinde ist neben der Dürener im Rheinland die Einzige, die in solchem Umfang diakonische Projekte professionell und qualifiziert anbietet. Wir sehen diese Arbeit ausdrücklich als Gemeindearbeit. In einer Zeit der „systemischen Ausdifferenzierung“ ist dies ein innovativer Beitrag zur lebensweltlichen, ganzheitlichen Orientierung der christlichen Gemeinde vor Ort. Die Gemeinde entwickelt so ihre sozial-diakonische Kompetenz weiter und gibt den evangelischen Positionen die nötige Glaubwürdigkeit – nicht zuletzt, weil sie Arbeitsplätze schafft. Die Gemeinde qualifiziert sich als öffentlicher Ort von Bildung und sozialer Kommunikation. Gleichzeitig bleibt das innergemeindliche theologische Nachdenken durch den lebendigen Austausch mit einer qualifizierten Praxis gesellschaftlich anschlussfähig.
horizonte: Welche Resonanz findet die Projektarbeit?
Thomas Hartung: Nach drei Jahrzehnten Projektarbeit kann man feststellen, dass die Gemeinde finanziell und an Erfahrungen profitiert hat. Das zahlt sich in der heutigen Zeit der Konsolidierung aus: Flexibles Reagieren, kooperatives Handeln, vernetztes Denken, kein grosszügiges Verlagern der Verantwortung nach Haushalts lage, sondern ein immer neues Abwägen zentraler und dezentraler Strukturen.
horizonte: Wie sieht es mit der Akzeptanz durch die Gemeindeglieder aus?
Thomas Hartung: Vom Rand der Gemeinde hat sich der Arbeitsbereich hin zu einem wichtigen Bestandteil der Gemeindearbeit entwickelt, der mit seinem ganzheitlichen Arbeitsansatz unter anderem auch die Diskussion im presbyterialen Ausschuss für Gemeindeentwicklung beeinflusst. Viele Angebote wären ohne die logistische Infrastruktur, die die Projekte der Gemeinde geben, nicht möglich. Die Gemeinde weiß: „Die tun was!“ Und sie wissen, das gilt für jeden und jede in der Gemeinde.